Die Industrialisierung des Alltags

Mit dem Begriff Industrie 4.0 ist die Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette gemeint. Sie macht an den Werkstoren nicht Halt, sondern betrifft uns alle.
Illustration: Adrian Bauer
Illustration: Adrian Bauer
Mirko Heinemann Redaktion

Schon seit vielen Jahren ist die Automatisierung der Fertigung eines der Leitthemen auf der Hannovermesse, der Leistungsschau der deutschen Industrie. Vor einigen Jahren rückte an die Stelle dieses Themas ein neuer Begriff: „Industrie 4.0“. Gemeint ist damit die Optimierung der Fertigung in der Fabrik mit digitalen Mitteln: Sensoren in den Maschinen und an jedem Bauteil in der Fertigung zeichnen alle Vorgänge auf. Mikrochips in den Bauteilen kommunizieren direkt mit den Maschinen, die sie produzieren. Kameras in der Werkshalle beobachten die Menschen und Roboter. Jeder Fertigungsschritt wird erfasst und analysiert. Ein Zentralcomputer beobachtet jeden Schritt der Produktion und optimiert Zeit und Energie.

Aber natürlich ist Industrie 4.0 viel mehr. Am besten wird sie wohl mit „Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette“ beschrieben. Die intelligenten Produkte und die intelligente Produktion stehen ja nicht allein. Sie sind mit neuen, digitalen Geschäftsmodellen verknüpft, die an den Grenzen des Privaten nicht Halt machen. Damit wird die industrielle Fertigung zum einen flexibler: Kunden, die ein Produkt kaufen möchten, können über das Internet ein individuell gefertigtes Exemplar bestellen. Der Befehl geht direkt an die Fabrik, die automatisch das gewünschte Produkt konstruiert und herstellt. Das Produkt wird dann direkt an den Kunden vertrieben.

Ausweitung der Wertschöpfungskette

Zum anderen aber weist „Industrie 4.0“ weit über die Industrie hinaus. Die Digitalisierung erfasst die Wertschöpfungsketten in unserem Alltag und macht ihn so effizienter. Nur ein Beispiel sind Online-Bestellungen bei einem Internethändler. Sie lösen einen Bestellvorgang aus, aber überdies auch einen Zahlungs-, Verpackungs- und Auslieferungsvorgang. Es folgt ein Empfehlungsvorgang: In Zukunft wird der Käufer vom Händler Vorschläge über Artikel erhalten, die ihn ebenfalls interessieren könnten. So wird die gesamte Wertschöpfungskette nach und nach abgedeckt.

Wer mit einer App heute eine Bahnverbindung heraussucht, erhält einen Vorschlag bis zur Zieladresse, inklusive Bahn, Bus und Fußweg. Mit der gleichen App kann er das Ticket erwerben. Selbst unsere soziale Interaktion wird zunehmend effizienter. Wir sind ständig und überall verfügbar, Nachrichten und Fotos stellen wir auf sozialen Netzwerken ein, wo sie viele Menschen auf einmal sehen und darauf reagieren können. Die Industrie wiederum kann hierüber Rückschlüsse darauf ziehen, was die Menschen bewegt, worüber sie kommunizieren und welche Produkte oder Dienstleistungen sie benötigen könnten. So kann auch Innovation immer näher am Konsumenten stattfinden, noch effizienter werden.

Und noch individueller: Mit den neuen Verfahren der additiven Fertigung, im Volksmund als 3D-Druck bezeichnet, können kostengünstig individuell zugeschnittene Einzelstücke gefertigt werden. „Der 3D-Druck wird die industrielle Produktion von Grund auf revolutionieren, weg von der Herstellung von Massenware, hin zur individuellen Einzelfertigung. Produkte können künftig exakt nach Kundenwunsch hergestellt werden“, so Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer des Digitalverbands Bitkom. „Die Möglichkeit, prinzipiell an jedem Ort sofort ein Produkt herzustellen, wird zudem Kosten und Aufwand für Lagerung und Logistik deutlich reduzieren, wovon zahlreiche Branchen profitieren.“ So umgehen Airlines etwa bereits heute lange Lieferzeiten, indem sie Ersatzteile von Flugzeugtriebwerken ausdrucken. Kunden können beim Hersteller ein von ihnen selbst entworfenes Smartphone bestellen oder den Konstruktionsplan einer Kaffeemaschine an den heimischen 3D-Drucker schicken. Erste Unternehmen arbeiten bereits am „Bioprinting“, an der Entwicklung von Organen aus dem 3D-Drucker zur direkten Transplantation.  

Maschinen werden immer intelligenter

Viele glauben, dass Industrie 4.0 Arbeitsplätze kosten wird, weil Menschen an vielen Stellen einfach durch Maschinen ersetzt werden. In der Tat geschieht das schon lange: Die Landwirtschaft wird längst weitgehend von Maschinen erledigt. In der industriellen Produktion arbeiten immer mehr Roboter. Im Haushalt übernehmen zunehmend Maschinen das Staubsaugen, Wischen oder das Rasenmähen. Algorithmen übernehmen auf Wunsch die persönliche Vermögensverwaltung, und wer sich durch Menüs telefoniert, spricht oft bereits mit einem Roboter. Auch viele Standardtexte werden schon von Maschinen erstellt. Doch was passiert mit den Menschen, wenn immer mehr Wertschöpfung durch Maschinen erbracht wird? Viele glauben: Sie werden innovativer. Klar ist, dass Qualifikation in der Industrie 4.0 immer wichtiger wird.  

Wie die gesamte Digitalisierung hat auch die digitale Industrialisierung des Alltags eben erst begonnen. Die Maschinen, die wir benutzen, entwickeln sich in atemberaubender Geschwindigkeit weiter, sie werden intelligenter, vielfältiger, nützlicher. Der große Traum von Usern und IT-Industrie ist die Verkürzung des Bedienvorgangs, sprich: der Verzicht auf die umständliche Tastatur. Der Online-Versandhändler Amazon hat dazu kürzlich „Dash Buttons“ eingeführt, mit denen man Waren des täglichen Gebrauchs direkt bestellen kann. Sie sind drahtlos mit dem Internet verbunden und können an unterschiedlichen Stellen in der Wohnung angebracht werden: zum Beispiel kann man an die Waschmaschine einen Bestellknopf für Waschmittel anbringen, am Badspiegel einen Knopf für Rasierklingen. In den USA sollen sie bereits recht verbreitet sein. „In Deutschland haben es solch digitale Innovationen oft noch unheimlich schwer“, bedauert Joachim Bühler aus der Geschäftsführung des Bitkom.  

Hintergrund: Die Verbraucherzentrale NRW hat kurz nach Einführung der Dash Buttons in Deutschland Klage eingereicht. Denn der Haken bei der Direktbestellung: Die Preisgestaltung ist für den Käufer intransparent. Um den aktuellen Preis des Produkts zu ermitteln, muss der Käufer seinen Rechner oder sein Smartphone einschalten und auf der Homepage des Händlers nachsehen. 

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