Die granulare Gesellschaft

Wo stehen wir im Prozess der sogenannten digitalen Transformation und was ist das Wesen der Veränderung? Welche Chancen bieten sich und welche Herausforderungen sind zu meistern? Wie ist die deutsche Industrie hierbei aufgestellt?
Illustration: Adrian Bauer
Illustration: Adrian Bauer
Interview: Klaus Lüber Redaktion

Ein Gespräch mit dem Soziologen, Autor und Journalisten Dr. Christoph Kucklick.
 

Herr Kucklick, Begriffe wie Industrie 4.0, Internet der Dinge und Big Data werden inzwischen oft als Buzzwords kritisiert, die sich mehr auf das Marketingversprechen der Industrie beziehen als auf wirkliche Veränderungen. Ihrer Meinung nach zu Recht?
Die Veränderungen sind real, fragt sich nur: wo? Auch bei uns in Deutschland? Daran gibt es berechtigte Zweifel, die ich teile. Deutschland „kann“ Digitalisierung, wenn sie mit „Heavy Metal“ einhergeht, wenn Ingenieure sie auf Maschinen aus Stahl und Pumpen pfropfen. Darüber hinaus, etwa bei Kommunikationstechnologien oder neuen Servicemodellen, sind wir tapsig und ängstlich. Auffällig ist auch, dass so gut wie keine Basistechnologie der Digitalisierung aus Deutschland kommt, dass vor allem die großtechnische Implementierung intelligenter Technologien nicht auf heimischen Servern stattfindet. Das war in der Industrialisierung anders: Damals sorgten deutsche Start-ups für entscheidende Durchbrüche, damals spielte allerdings auch das soziale Begleitorchester die euphorischen Stücke der Technikbegeisterung. Die fehlt heute. Die Tonart ist moll.
 
Können Sie etwas mit dem Begriff digitale Transformation anfangen und in welcher Beziehung steht er zu dem von Ihnen eingeführten Begriff der Granularität?
Mir leuchtet der Begriff ein: als Bezeichnung, dass wir es hier mit mehr zu tun haben als nur der Einführung einer neuen Technologie. Wir sollten die Veränderungen eher an der Erfindung der Schrift messen oder dem Buchdruck, also an fundamentalen Veränderungen, die sich bis in die letzten Fasern des sozialen Gewebes durchgefärbt haben. Die digitale Revolution wird alles verändern: Wie wir arbeiten, wer wir sind, was wir als Wirklichkeit erachten, welche Rechtsbegriffe wir haben und welche wissenschaftlichen Kategorien. Dies versucht auch der Begriff der Granularität zu beschreiben, der darauf hinweist, dass im Kern des Digitalen eine Messrevolution steht: Durch Sensoren, Kameras, Rechner wird die Wirklichkeit selbst neu erfasst, höher aufgelöst, sodass wir ganz andere Dinge zu sehen bekommen, uns in einer anderen Welt bewegen.

Die gesellschaftliche Umwälzung, die wir gerade erleben, wird oft mit der Industrialisierung verglichen. Wo liegen die Gemeinsamkeiten, wo die Unterschiede?
Industrialisierung mechanisiert die Muskeln, Digitalisierung das Hirn. Das klingt vergleichbar, dahinter liegen aber grundlegend andere Prozesse. Die Industrialisierung favorisierte, schon aufgrund der gefährlichen Herstellungsprozesse, Zentralisierung, Vorgefertigtes, die Entstehung großer Konglomerate, Homogenisierung der Arbeiter und entsprechende politische Organisationen. Digitalisierung bevorzugt, auf der Grundlage einer ebenfalls erheblichen technologischen Konzentration dezentrale Prozesse, Ent-Nationalisierung, Lokalisierung und die Verfertigung des Produktes und der Dienstleistung in Echtzeit und mit Bezug auf die jeweilige Situation. Deshalb ist die Vergangenheit der Industrialisierung nur ein begrenzt brauchbarer Wegweiser in die Zukunft.

Auch wenn es um die konkrete Frage geht, wie der Mensch sich im Zuge der Digitalisierung verändert, wird gerne auf die Mediengeschichte Bezug genommen – den Buchdruck. Auch hier die Frage: Inwieweit hilft uns der historische Vergleich?
Der Vergleichsmaßstab ist die Überforderung. Die Welt nach dem Buchdruck wurde von einer gewaltigen Vielfalt der Meinungen überschwemmt; plötzlich konnten alle mitreden, die einen Zugang zu einer Presse hatten – die alten Eliten, die bis dato die Hoheit über das Sag- und Denkbare hatten, wurden ihres Lebens nicht mehr froh. Soziologen sprechen von einem kommunikativen Überschuss. Darauf waren die alten Institutionen des Mittelalters, die Kirche, das Recht, die Politik, nicht vorbereitet; sie brachen zusammen oder mussten grundlegend reformiert werden, um den neuen Anforderungen standzuhalten. In der Folge entstanden rationale Wissenschaft, Kritik, später dann Aufklärung, also die Zumutung an die Bürger, sich im Chaos der Meinungen eine eigene zu bilden. Und schließlich so etwas Unwahrscheinliches wie Demokratie, also das Mitspracherecht aller Meinungshabenden. Das alles sind Anpassungen an die Gutenberg-Galaxie, der Versuch, die Überforderung in den Griff zu bekommen.

Wodurch werden wir heute überfordert?
Durch mehr oder weniger intelligente Maschinen. Sie beobachten mit, sie rechnen mit, sie denken mit, sie entscheiden mit, sie fangen an mitzureden. Auf nichts davon sind unsere Institutionen vorbereitet, auf nichts haben wir eine Antwort. Wissenschaftler kratzen sich die Stirn, was mit von Computern geschriebenen mathematischen Beweisen anzufangen ist, die so lang und komplex sind, dass kein Mensch sie mehr verstehen kann. Juristen fragen sich, welchen Wert Grundbegriffe wie „Besitz“ noch haben, wenn etwa ein Google-Doc gleichzeitig auf hunderten Bildschirmen als „Original“ auftaucht und von jedem User verändert werden kann, auf Servern in drei Kontinenten liegt und auch noch von künstlicher Intelligenz automatisch redigiert wird? Ärzte vermessen Pa-
tienten digital inzwischen so genau, dass das, was bislang als eine, bei allen gleiche Krankheit galt, so unterschiedlich erscheint, dass Mediziner mittlerweile annehmen, „das gesamte Klassifikations-System der Medizin müsse neu geschrieben werden“ (Eric Topol). Man sieht: Verwirrung, Zusammenbruch der Kategorien, Ratlosigkeit – eben: Überforderung.

Lassen Sie uns konkret über die Gegenwart sprechen. In welcher Phase der digitalen Revolution befinden wir uns heute, 2016?
Ganz am Anfang.

Welche Veränderungen sind noch zu erwarten? Welche positiven und negativen Szenarien sind denkbar?
Die Buchdruck-Revolution hat sich über 400 Jahre ausgespielt, da haben wir noch viel vor uns. Wenn ich den aktuellen Spielstand beurteilen müsste, so würde ich sagen: Europa schmeißt sich energisch an das Alte ran und meint Positionsgewinne durch Bewahrung und vorschnelle Regulation zu erzielen. Die USA haben es geschafft, aus der Digitalisierung eine neue Heldenerzählung zu generieren und inszenieren sie mit Lust und Gewinn. Die heimlichen Treiber sitzen, so vermute ich, in Asien, wo die Digitalisierung auf ganz andere Selbstkonzepte der Bürger und auf andere politische Traditionen trifft – und Dinge ausprobiert werden, die uns mehr beeinflussen werden, als wir es jetzt ermessen.

Einer Ihrer Kernthesen in diesem Zusammenhang lautet, dass wir im Zuge der technologischen Entwicklung unser Konzept von Gleichheit überdenken müssten. Können Sie das näher erläutern?
Je genauer wir vermessen, desto deutlicher treten die Unterschiede hervor. Und im Digitalen messen wir sehr viel genauer als vorher. Autos haben jetzt Hunderte Sensoren und so lässt sich bis in winzigste Details erfassen, wie jeder einzelne Autofahrer im Unterschied zu jedem anderen fährt. Ärzte vermessen Patienten jetzt mit Dutzenden Sensoren rund um die Nacht – und sind überrascht wie verschieden jede Krankheit bei jedem Menschen ist. Wir erfassen die Unterschiede bei Sportlern, bei Tieren, bei Studenten – überall da, wo die feinauflösenden Sensoren zum Einsatz kommen. Unsere Gesellschaft wird überschwemmt mit Unterschieden, die wir bislang entweder nicht kannten oder ignorieren konnten. Sie waren politisch oder sozial schlicht nicht relevant. Nun aber sind sie es und werfen viele Fragen auf: Sollen Versicherungen diese Unterschiede auswerten und darauf ihre Prämien abstimmen, Stichwort: Individualisierung der Versicherungen? Und auch der Staat bei der Sozialversicherung? Und der Arzt bei der Behandlung?
Aber was bedeutet das für unseren Sinn für Gerechtigkeit, für Gleichbehandlung? Der hat sich unter Bedingungen der Moderne gebildet, also mit – wie wir jetzt sehen – statistischer Unschärfe und geringem Wissen über die Einzelnen. Das ändert sich radikal und wird neue Antworten verlangen.

Welche Bedingungen müssen geschaffen werden, um die Chancen der Digitalisierung zu nutzen und die Risiken einzudämmen? Unter welchem Veränderungsdruck stehen klassische Institutionen?
Darauf gibt es keine allgemeine Antwort. Es bieten sich Myriaden von Chancen und ebenso viele Risiken. Falsch wäre zu glauben, wir könnten die Risiken ausschalten, anzunehmen,
Transformation vermutlich auch gezwungen sein werden, unser Selbstverständnis in Frage zu stellen. Wir haben uns in den vergangenen Jahrhunderten angewöhnt, uns als kognitiv überlegene Vernunftwesen aufzufassen, als die schlausten Wesen auf dem Planeten.  Es wird uns aber schwer fallen, diese Selbstbeschreibung aufrechtzuerhalten, wenn rechts und links kognitiv weit überlegene Kunstwesen entstehen, künstliche Intelligenzen, smarte Computer. Wir werden also eine neue Basiserzählung über uns selbst suchen. Ich vermute, darin werden Begriffe wie Emotion, Sensitivität, soziale Irritierbarkeit eine große Rolle spielen. Wir definieren uns also von den kognitiven Superstars um zu den sozialen Großmeistern des Planeten und werden entsprechende Fähigkeiten prämieren. Erste Anzeichen, so meine ich, lassen sich schon finden.

Welche Rolle spielt Deutschland? Verschlafen wir die Digitalisierung, wie immer wieder gesagt wird? Oder ist unsere skeptische, eher abwartende Haltung vielleicht gar nicht so falsch?
Auch hier wieder: Eine allgemeine Antwort darauf fällt mir nicht ein. Nicht jedem Hype muss man hinterherhecheln, nicht jede neue API einbauen. Auf manchen Gebieten ist Deutschland stark, in der Automatisierung etwa, auf anderen machen wir uns das Leben schwer. Ich beobachte eine bizarre Arbeitsteilung etwa zwischen den USA und Deutschland: Die einen sehen nur die Lösungen, wir konzentrieren uns auf die Probleme. Die jeweilige Einseitigkeit leuchtet mir nicht ein. Wir sollten die Unfassbarkeit der Herausforderungen betonen – und sie dann fröhlich angehen. Das ist schwer, aber auch aufregend.